Ein zufällig entdecktes Gemüse: Chicorée
Chicorée hat jeder schon einmal gesehen. Aber wer hat ihn schon einmal zubereitet, oder kocht gar regelmäßig damit? Er gilt bei vielen als bitter, als langweilig, als schwierig. Man kennt ihn vielleicht schon mal als simple Schiffchen-Deko auf dem Teller oder als Rohkost zum Dippen. Das ist wirklich langweilig und man tut seinen kulinarischen Qualitäten dabei Unrecht. Es geht auch ganz anders, wie uns ein Blick hinüber nach Belgien zeigt. Nicht erstaunlich eigentlich, denn er wurde ja in Belgien entdeckt.
Puristen schwören dort auf den bitter-süßlichen Geschmack und wissen ihn in der Küche genussbringend einzusetzen. Schmoren und überbacken heißen hier die Zauberwörter. Wie wär‘s mit geschmortem Chicorée mit Orangenjus und gebratenen Jakobsmuscheln? Oder einfacher: Chicorée mit Kochschinken in Béchamel-Soße?
Von Kaffeeersatz und Kapuzinerbärten
Den Chicorée (frz.: chicon, ndl.: witloof) haben die Belgier „zufällig“ erfunden. Nur wer und wo es genau war, darüber gibt es mehrere Versionen. Die Einwohner der Brüsseler Gemeinden Schaerbeek und Evere lebten in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausschließlich vom Ackerbau. Außer Kartoffeln, Weizen und Rüben bauten sie auch Wurzel- oder Kaffeezichorie an. Die Wurzeln wurden geröstet und gemahlen. Sie bildeten den Grundstoff für den Kaffeeersatz, denn echter Kaffee war damals unbezahlbar. Kleinere Wurzeln durften die Bauern für den eigenen Gebrauch behalten. Daraus machten sie dann die Kaffeezichorie. 1775 hatten nämlich zwei französische Ärzte ein Verfahren entdeckt, um aus gerösteten Wurzeln Kaffeeersatz herzustellen. Das so hergestellte Gebräu war ein Ersatz für Kaffee vor allem während Napoleons Kontinentalblockade. Irgendwann kam es zur Überproduktion. Es konnten nicht mehr alle Wurzeln verarbeitet werden und viele blieben in der Scheune liegen. Dort begannen sie zu keimen und es kamen weiß gelbe Sprossen zum Vorschein. Schon bald nannte man auf den Märkten in der Umgebung diese Büschel aus jungen Blättern und Sprossen Kapuzinerbärte. Diese Art Salat wurde ein echter Verkaufsschlager.
Laut Volksmund soll ein Bauer aus Schaerbeek, Jan Lammers, gegen 1830 dann rein zufällig den ersten Chicorée gezüchtet haben. Er bewahrte die Wurzeln in seinem Keller auf und bedeckte sie mit Erde, damit sie nicht gestohlen wurden. 1830 musste er während der Revolution mit seiner Familie flüchten und entdeckte nach seiner Heimkehr die weißen Sprossen auf den Zichorienwurzeln. Er probierte sie. Und siehe da, sie schmeckten ihm. Denn aus den bitteren Wurzeln wuchsen tatsächlich zarte, süße Blätter. Es vergingen aber noch viele Jahre bis zur ersten „offiziellen“ Chicorée. Der Chefgärtner des Botanischen Gartens in Brüssel, Frans Breziers, so sagt man, suchte sich in den 1850er Jahren eine wilde Zichorie und ließ sie Wurzeln im Dunklen austreiben. Das Ergebnis war erstaunlich. Die zarten, süßlichen Blätter blieben weiß, waren fest und schmeckten.
1873 wurde er unter dem Namen Chicorée das erste Mal der Weltöffentlichkeit präsentiert. Im flämischen Kampenhout nahe Brüssel und Mechelen, dem belgischen Anbaugebiet, gibt es sogar ein Chicorée-Museum, das 2020 komplett renoviert neu eröffnet. Und wer sich von Kampenhout aus auf die Witloof-Route macht, kommt an vielen Chicorée-Höfen vorbei. Nicht verrückt, sondern lecker: Die Belgier machen aus Chicorée auch Konfitüre (Confiture de chicons//witloof confituur) ebenso wie aus Zwiebeln als süße Verführungen zu Pasteten oder Wild.
Freiland oder Hydrokultur
Darüber, was der bessere Chicorée ist, Freiland oder Hydrokultur (Treibhäuser), wird in Belgien trefflich gestritten. Jedermann kennt den besonderen Geschmack des Chicorées, zugleich süß und bitter, mit einer Note von Haselnuss. Der Freiland-Chicorée, so heißt es, habe genau diesen Geschmack, jedoch viel ausgeprägter. Denn die Anbaumethode ist traditionell und wird oft über mehrere Generationen gepflegt. Der Freiland-Chicorée wächst in der Dunkelheit. Doch es ist die Wurzel, die aus ihm ein einzigartiges Produkt macht. Sie entwickelt sich in der vollen Erde und wird dadurch vor Licht geschützt. Diese Prozedur dauert vier bis sechs Wochen, wogegen ein klassischer Chicorée nur drei Wochen braucht. Die langsamere Anbaumethode hat den Vorteil, dass die Blätter zarter werden, fester, mit einer bemerkenswerten Frische und besonderen Knackigkeit.
Freiland-Chicorée ist reich an Ballaststoffen und gut für die Verdauung. Dennoch findet man auch in Belgien immer mehr Hydrokulturen für Chicorée. Für den Verbraucher: Man sollte Chicorée wählen, der fest, fleischig und schön weiß ist. Je mehr weiß er ist, desto mehr wurde er vor Licht geschützt, und umso schmackhafter kommt er daher. Man achte besonders auch auf die Ränder der Blätter. Wenn sie blassgelb sind, perfekt. Auch das Basisstück des Chicorées sollte so weiß wie möglich sein.
Chicorée wird hauptsächlich in Belgien, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland angebaut. Europäische Schätzungen gehen von einem Jahresverbrauch von etwa 8 Kilogramm pro Person in Belgien, etwa 4 Kilogramm in Frankreich und den Niederlanden und nur von etwa 300 Gramm in Deutschland aus. Nun ja, wem der Chicorée immer noch zu bitter erscheint, der kann den kegelförmigen Strunk vor dem Garen entfernen und den Chicorée mit Zucker karamellisieren. Für die belgischen Puristen ist das allerdings ein Skandal, und genauso ein No-Go wie das Aufwärmen von geschmortem Chicorée.